„kalkweiss“ (Roman)

Verlag edition8 Zürich, 2011, 240 Seiten

ISBN-10: 385990163X
ISBN-13: 978-3859901636

Leseprobe

Die Frau sitzt im Bad auf dem Boden und verfolgt, wie die Kälte aus den Fliesen in sie kriecht, sich in ihr ausbreitet, bis es sich anfühlt, als befänden sich Kühlaggregate in ihr. Durch die offene Badtür kann sie sehen, dass es mittlerweile dunkel geworden ist. Sie will sich erheben. Das geht nicht. Die Beine schmerzen. Sie sitzt schon zu lange da. Sie weiß, dass sie nicht nach links schauen darf, dort befindet sich die Badewanne. Wenn man nicht hinschaut, ist es einfacher. Im Haus ist es still. Sie kennt verschiedene Arten von Stille. Die Stille, die eintritt, wenn der Junge die Tür zuschlägt und das Haus verlässt. Eine wohltuende Stille. Wenn die sich im Haus ausbreitet, dann fühlt sich das wie kühlender Balsam auf einer brennenden Wunde an. Sie hat gern in diese Stille hineingelauscht und sich gewünscht, dass sie ihr gehöre und sie niemals mehr verlasse. Verbotene Gedanken waren das. Wenn man die erst mal zuließ, dann öffnete man ihnen die Tür und ließ sie in die Welt spazieren.

Die Frau bin ich, Diane Stein, mittlerweile 44 Jahre alt. All das, was ich heute noch vor mir sehe, als finde es im Augenblick statt, geschah vor zwei Jahren und ich kann immer noch nicht glauben, dass es geschah.

Die Frau am Boden stellt fest, dass sie denken kann. Normal denken. Es ist gar nicht so schlimm, wenn man nur normal denkt, sagt sie sich und, dass sie aufstehen, etwas tun muss. Ein Glas Wasser trinken. Unten in der Küche. An das Spülbecken gelehnt. Wie sie es immer tut, wenn sie eine Pause braucht, zum Nachdenken. Sie schaut aus dem Fenster in Richtung Osten. Dort ist die Wiese. Sie kann sie nicht sehen. Es ist dunkel. Grillen zirpen. Es duftet nach Erde, nach Gräsern. Sommer. Alles, was sie im Moment weiß, ist: Sie braucht Zeit. Das hier wird dauern. Das geht nicht einfach so: sich stellen, abführen lassen, Presse. Oder: verbuddeln, vergessen, zur Tagesordnung übergehen. Das hier ist etwas anderes. Das hier muss ihrem Rhythmus folgen. Sie merkt, wie sich etwas um sie legt. Etwas, das wie ein Schleier sich anfühlt, durch den alles blasser aussieht, das Grün, das Blau, das Licht. Das Denken nicht. Das ist klar. Henning will kommen, heute Abend. Sie muss Henning anrufen. Absagen. Henning würde sich nicht absagen lassen. „Wieso? Was machst du denn?“, würde er fragen. „Mach das doch morgen.“ Oder: „Ich fahre dort vorbei, ich bringe es dir mit.“ Oder: „Ich regle das schon. Den kenne ich gut. Ich rufe ihn an.“ Henning bestimmte, wenn sie ihn einbezog. Sie bezog ihn nie ein. Henning war wie David. Henning versuchte sie nach seinen Vorstellungen zu formen. Als wäre sie, so wie sie ist, nicht da. David ließ sie nicht reden, nicht einen Satz zu Ende sprechen. Er ging zwischen ihre Worte. Er redete sie weg. David verstand noch nichts vom Reden, zu jung, 17.

Sie gibt sich Befehle: Kalt duschen. Eiskalt. So lange, bis es schmerzt. Noch länger. Das ist jetzt richtig. Sie geht in den Garten. Lauer Wind. Er trägt den Duft des Waldbodens mit sich und den der Gräser. Der Gartenschlauch leuchtet auf der dunklen Wiese. Wachsweiß vor schwarzem Hintergrund. Ein Riesenwurm. Fauliges weht heran. Sie greift nach dem Schlauch, verschwindet mit ihm im Keller. Bei Licht ist er knallgelb. Eiskalt das Wasser auf ihrer Haut. Nicht wegzucken, weist sie sich an und lässt das kalte Wasser über ihren Kopf laufen, über ihren Rücken, die Brust, den Bauch. Alles vereist, alles schmerzt. Bohrender Schmerz im Kopf, im Auge. Weitermachen. Der Schmerz vergeht. Die Kälte tötet ihn. Sie stellt sich vor, sich im Wasser aufzulösen und mit ihm in dem Ausguss, der in den Betonboden eingelassen ist, abzufließen. Irgendwohin, durch Rohre, aus denen es kein Entrinnen gibt, es sei denn durch eine kleine, rostige, undichte Stelle könnte das Wasser im Erdreich versickern.

„Entschuldige. Ich habe dich gesucht.“ Henning. Er steht im Türrahmen, dunkel und groß, korrekt gekleidet, Anzug, Krawatte. Ihr Blick fällt auf seine gepflegten Fingernägel. Das Wort ‚fabelhaft’ fällt ihr dazu ein. Ist es nicht verrückt, was einem in so einer Situation einfällt? Sie steht nackt vor ihm, wie ein Eisblock. Sie spürt nichts. Nicht einmal ihre Nacktheit. Es erregte sie sonst, wenn Henning sie nackt betrachtete. Sie sieht sich um. Im Keller ist kein Handtuch. Auf dem Boden liegen ihre Sachen. Die kann sie nicht anziehen. Sie sind nass. Ein Rinnsal fließt aus ihnen in die Mitte des Kellerraumes zum Ausguss, blassrot. Henning verfolgt ihren Blick. „Soll ich dir ein Handtuch holen?“, fragt er. Das geht nicht. Das Bad, denkt sie und geht auf ihn zu. Nackt. Das hat sie noch nie getan, ohne dass er sie dazu aufforderte. Es ging. Es ging alles, wenn man nur glaubte, dass es richtig war. Sie berührt seine Lippen, hält sonst Abstand zu ihm, damit sein Anzug nicht nass wird. „Du bist kalt“, sagt er.

Sie zieht sich oben im ersten Stock im Schlafzimmer an. Das ist schwierig. Der Körper gehorcht ihr nicht. Die Arme, die Beine, alles ist kalt. Sie denkt, daran, dass man die Badtür schließen muss. Von außen. Nur wie? Der Junge hat eine Münze in den Schlitz gesteckt, wenn sie in der Badewanne saß und er ins Badezimmer wollte. So muss es umgekehrt auch gehen, denkt sie. Die Kälte hat die Muskeln in den Händen erstarren lassen. Sie befiehlt sich ruhig zu bleiben. Sie sagt sich, dass sie warmes Wasser über die Hände laufen lassen muss. Sie sieht zu, wie sie davon rot werden, sie spürt ein Brennen. Sie stellt sich vor, wie Henning in der Küche auf und ab geht, nach der Zeitung auf dem Tisch greift, es sich dann auf der Terrasse bequem macht. Tief die würzige Waldluft einatmet. Die mag er. Die hat er selten. Immer im Büro oder unterwegs im Flieger, im Auto. In dem wartete er sonst auf sie, vorm Haus. Er mag es nicht, wenn etwas anders ist. Dann wird er unruhig. Sein Gesicht überzieht sich mit so einem blassen Rot, die Haut wird feucht und er beginnt dann mit einem Kugelschreiber in seiner Hand hin und her zu schlenkern, Zettel zu suchen und sein Gegenüber, selbst wenn der weiterhin mit ihm redet, nicht zu beachten.

Copyright Gesina Stärz und edition8

 

Pressestimmen

„… ‚ein enorm wichtigs Buch‘, wie sich die Kritik einig ist, über ein Tabu.“

Magnus Reitinger, Münchener Merkur, 2011


„Mit wenigen Worten zeichnet Stärz starke Bilder: ‚Die Frau sitzt im Bad auf dem Boden und verfolgt, wie die Kälte aus den Fliesen in sie kriecht, sich in ihr ausbreitet, bis es sich anfühlt, als befänden sich Kühlaggregate in ihr. Durch die offene Badtür kann sie sehen, dass es mittlerweile dunkel geworden ist. Sie will sich erheben. Das geht nicht. Die Beine schmerzen. Sie sitzt schon zu lange da. Sie weiß, dass sie nicht nach links schauen darf, dort befindet sich die Badewanne. Wenn man nicht hinschaut ist es einfacher.‘ So beginnt der Roman. Dass er ungeheuer gut geschrieben ist, trägt viel dazu bei, dass man immer weiterlesen möchte. […] Das Buch ist spannend, und es berührt den Leser tief, ohne ihn zu depremieren.“

Ingrid Hügenell, Süddeutschen Zeitung (Ausgabe Wolfratshausen), 28.8.2011

 

„Verbotene Gedanken. Ein Roman über ein Tabu.“

Katrin Fügener, Leo-n-Art, Juni 2011

 

„Mit dieser Geschichte hat die in Sachsen geborene Gesina Stärz einen fiktiven Stoff geschaffen, ihn überzeugend komponiert und mit einer vorzüglichen Sprache gestaltet.“

Beatrice Eichmann-Leutenegger, Neue Züricher Zeitung, Online-Ausgabe vom 6. Juni 2011

 

„Dieses Buch ist verstörend, dabei aber doch so spannend, dass man es bis zum Ende nicht aus der Hand legt.“

ekz.bibliotheksservice Deutschland: IN 2011 Ausgabe 18 

 

„Distanzierter Blick auf das Unfassbare“

Monika Heppt, „Kulturbegegnungen“, Ausgabe 14

Umschlag als PDF-Datei