„leben, überwiegend glücklich“ (Roman)

Verlag Edition 8 Zürich, 2014, 352 Seiten, auch als eBook erhältlich (amazon)

ISBN-13: 978-3-85990-240-4

Pressestimmen
Rezension als PDFGesina Stärz, Roman „leben, überwiegend glücklich“
Edition 8, Zürich 2014

Leben, überwiegend glücklich unterscheidet sich von den beiden ersten Romanen von Gesina Stärz, in denen sie in menschliche Abgründe steigt. Hier verknüpft sie geschickt Geschichte und Gegenwart, Leben und Tod, Verantwortung und Gleichgültigkeit zu einem spannend zu lesenden Buch.“

Monika Ziegler, www.kulturvision.de

 

Rezension als PDF

Leseprobe

Gesina Stärz

„leben, überwiegend glücklich“

Für Philipp, Maximilian, Toni,
Sandra, Pauline, Louis,
Theresa und Vincent.

„Denken wir uns ein Theater, der Vorhang ginge auf und wir sähen einen Menschen
allein in seinem Zimmer auf und ab gehen, sich eine Zigarette anzünden, sich
niedersetzen und so fort, so daß wir plötzlich von außen einen Menschen sähen wie man
sich sonst nie selbst sehen kann: wenn wir quasi ein Kapitel einer Biografie mit eigenen
Augen sähen, – das müsste unheimlich und wunderbar zugleich sein. Wunderbarer als
irgendetwas was ein Dichter auf der Bühne spielen oder sprechen lassen könnte. Wir
würden das Leben selbst sehen.“
Ludwig Wittgenstein

Montag, 24. Dezember 2012 – Die Tagestemperaturen liegen zwischen sechzehn und
zwanzig Grad und sind die Hauptmeldungen in den Nachrichtensendungen, dazu
Filmbeiträge von Menschen, die in Straßencafés sitzen oder in den Isarauen liegen. Herr
Vogl beugt sich über den Kofferraum seiner Limousine, ein weißer Mercedes älteren
Baujahres, als du mit Einkaufskorb und Tüten beladen um die Hausecke biegst. Als er
dich bemerkt, lacht er, kommt auf dich mit ausgestreckter Hand zu.
„Schöne Weihnachten“, sagt er.
„Schöne Weihnachten“, sagt seine Frau hinter dir.
Sie muss, als sie dich hörte, die Treppe herunter geeilt sein, steht nun in der Haustür und
strahlt. Alle drei strahlt ihr. Du, weil du beschlossen hast an den See zu fahren und auf
der Terrasse des Cafés Borkholders ein Glas Prosecco zu trinken. Die beiden, weil sie dir
ihr Haus zeigen wollen. Den Weihnachtsbaum vorm Kamin, die Bäder, Schlafzimmer
und Küchen, die Appartements, Galerien, Balkone und Terrassen. Die Kinderfotos an der
Wand, mit dem Bruder von Herrn Vogl.
„Er kam nicht aus dem Krieg zurück, der Willi“, sagt er.
Den Blick in Richtung Osten und den in Richtung Westen, den man aus dem
Kaminzimmer hat, musst du dir ebenfalls ansehen.
„Früher haben wir uns mit Freunden, die dort drüben wohnten, Lichtzeichen am Abend
gegeben“, sagt Frau Vogl.
Inzwischen seien alle Freunde gestorben. Das Alter. Sie seien nun allein und es sei nicht
einfach.
„Das ist ein gutes Haus. Hier wohnt ein guter Geist. Das ist ein richtiges zuhause“, sagt
sie.
„Ja, das ist es“, sagst du und nimmst sie mit zu dir in dein Haus, das an ihres grenzt.
Dein Haus ist karg eingerichtet. Bücherregale, Schreibtische, monochrome Kunstwerke
an den Wänden in Grau, Weiß und Grün. Frau Vogl ist entzückt.
„Hier gibt es Luft zum Atmen“, ruft sie aus. Und: „Hier kommt man doch gern
nachhause.“
Du bist eine Alleinlebende. Das Wort gibt es nicht, stattdessen ist die Rede von
Alleinerben, Alleinherrschern, Alleininhabern, Alleinstehenden oder Alleinerziehenden.
Du bist seit drei Wochen eine Alleinlebende und als solche hast du Leben leergeräumt.
Das Leben, das du geführt hast, war zum größten Teil nicht deines. Du warst Mutter,
Ehefrau, Geliebte verschiedener Männer, Referentin für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
eines Technologieunternehmens. Und du hast dein Leben leergeräumt von Möbeln,
Kleidungsstücken, Geschirr, dem Fernseher, von allzu vielen Kontakten und
Erinnerungsstücken. Du hast alles reduziert bis auf wenige Ausnahmen, wie ein Bett,
einen Tisch, Bücher, ein paar Fotos und Kochgeschirr für ein einfaches Gericht, einen
Laptop und Lautsprecher sowie ein paar Kleidungsstücke, die du am Abend waschen
muss, damit du am Morgen wieder etwas zum Anziehen habe oder zumindest am Mittag.
Du hast keine Notwendigkeit am Morgen mein Schlafgewand gegen Jeans und Pulli
einzutauschen, denn du bist Privatier. Eine weibliche Bezeichnung für diese Lebensart
gibt es nicht. Du bist Privatfrau für zwei Jahre, so lange reichen deine finanziellen
Reserven. Und so lange wirst du brauchen, um ein Letztes aus deinem Leben zu räumen,
etwas, das du in einem Schuhkarton verpackt mit einer Plastiktüte umhüllt bei jedem
Umzug mitgenommen hast.
Nie hast du dich an einem Ort zu Hause gefühlt, nicht in deiner Geburtsstadt, nicht
andernorts. Nicht in deiner Familie, aus der du herkommst, nicht in der Familie, die du
gegründet hast, nicht bei mir selbst. Die Räume in dem Häuschen, das du von dem
Ehepaar gemietet hast, fühlen sich an wie ein zuhause: die Holzdielen über die viele
Generationen von Menschen und Tieren gelaufen sind. Eiligen Schrittes, schlurfend, auf
Zehenspitzen schleichend, mit nackten Füßen, mit dicken Wollsocken an den Füßen,
schweren Lederstiefeln, Absatzschuhen, Kinderfüße, Katzenpfoten, Hundepfoten. Der
Kamin in deinem Arbeitszimmer im ersten Stock. Die Wiese um das Haus mit den
verwachsenen Obstbäumen, das Birkenbrennholz aufgeschichtet an der Hauswand.
Wenn du nach Hause kommst, dann erweckst du das Haus zum Leben, dann zündest du
ein Feuer an, schichtest das Birkenholz in den Kamin. Die Flammen züngeln um die
Scheite, speisen sich aus dem Holz und lodern heulend den Kamin hoch. Du spürst die
Wärme des Feuers in deinem Gesicht, auf deinen Händen. Manchmal legst du zu viel
Holzscheite in den Kamin, dann werden die Steine um ihn herum so heiß, dass du sie
nicht berühren kannst, dann droht die Glut auf den Boden vor den Kamin zu fallen, dann
riecht es nach verbranntem Mörtel. Dann läufst du durch das Haus, reißt die Fenster auf,
gehst ins Bad, setzt dich auf den Toilettendeckel, zählst die Sekunden und weißt mit jeder
vergehenden Sekunde kühlt der Kamin ab und in einer halben Stunde wird deine Angst,
es könnte sich etwas entzünden, mit der Wärme in den Garten gezogen sein. Und wenn
du nach Hause kommst, hörst du Musik von Louis Armstrong oder Till Brönner wegen
der Stimmen. Die von Louis Armstrong dringt durch die Haut, breitet sich in jeder Zelle
deines Körpers aus, erfüllt dich mit Herzenswärme, Sicherheit. Die von Till Brönner
erzeugt Prickeln und weckt Sehnsucht nach Daniel, nach seinen Berührungen, die es nicht
mehr gibt in deinem Leben.
Wer du bist, nachdem du dein Leben leer geräumt hast, weißt du nicht. Du lernst dich
gerade kennen. Du stehst am vierundzwanzigsten Dezember des Jahres zweitausendzwölf
mit deinen Füßen auf Eichenholzdielen. Dir gegenüber steht eine Einundneunzigjährige,
die entzückt ist über die leeren Räume in deinem Haus. Du bist eine auf einem Boden
stehende und eine mit einer Frau Vogl redende und eine einer Frau Vogl zuhörende und
eine Frau Vogl ansehende. Und dass du das alles bist, bereitet dir Vergnügen, eine
erotische Lust am Leben, die Frau Vogl an deinem Schmunzeln erkennen könnte. Frau
Vogl hat graue Augen hinter ihrer Hornbrille, die die Hautporen vergrößert und auf ihrer
Nase heruntergerutscht ist, und es scheint, dass sie von Herzen spricht, nur kommt das in
ihren Augen nicht an. Du kannst all das erleben, spüren, wahrnehmen und du fragst dich,
ohne, dass Frau Vogl es bemerken kann, denn sie hört nicht auf, die leeren Räume zu
loben: Bist du all das?
Es ist noch Zeit bis zum Heiligen Abend. Du schnappst dir deine Sonnenbrille und fährst
in das Café Borkholders in die Seestraße. Die Terrasse des Cafés ist über den See gebaut,
Decken liegen über die Lehnen der Sessel und Heizstrahler leuchten und wärmen. Mattes
Dezemberlicht schimmert auf dem See und lässt ihn orange schimmern. Am Nachbartisch
sitzt ein Pärchen, das dir zunickt. Von der Seestraße herüber klingeln Glöckchen von
Pferdekutschen, trappeln Hufe, ruft der Kutscher Hoho. Die Bänke in den Pferdekutschen
sind mit Lammfellen und roten Decken ausgelegt. Es kommen mehr Menschen auf die
Terrasse, eine Familie mit vielen Kindern, Großeltern. Sie bestellen Bier und Kaffee und
für die Kinder Reiberdatschi mit Apfelmus oder Lachs. Zwei Männer, die russisch
sprechen, lassen sich nieder. Und zwei Pärchen, die aus der Schweiz kommen müssen.
Du schreibst eine SMS an Toni, dass du dich auf sie am Abend freust, und fragst, ob sie
allein kommt.
Toni kommt nicht allein. Ihren Freund hat sie dabei, mit dem sie im Sommer nach
Frankreich getrampt ist, mit dem sie Skitouren unternimmt und der gelegentlich bei ihr
übernachtet und von dem sie sagt, dass er nicht ihr Freund sei, nicht so wie ich meinen
würde. Ich habe nicht gefragt, was sie meint, was ich meinen würde. Fred studiere
Mathematik und sei kein Nerd, sagt sie. Ich habe auch nicht gefragt, wann ein Mann ein
Nerd ist.
Toni dreht sich im Kreis im Kaminzimmer, blickt von der Balkontür in den Garten.
„Ma, das ist das richtige Haus für dich“, ruft sie.
Du reichst ihr einen heißen Saft zur Begrüßung und zeigst ihr das Zimmer, das du unterm
Dach für sie eingerichtet hast. Fenster und Balkon hast du mit Lichterketten behängt, so
wie sie es mag. Zum Essen gibt es Entenbrust und Garnelen und Hühnerbraten und
Rinderbraten und spanischen Schinken und den Weihnachtssalat. Den gab es schon bei
deiner Mutter, die du nicht als Mutter bezeichnen magst, aber wie dann, – und bei Gisell
und davor bei Johanna.
„Wir sind die vierte und die fünfte Generation, die ihn verspeist“, sagst du.
Fred fläzt im Sessel vor dem Kamin, nippt an seinem Whisky. Behaglich sei es hier. Die
beiden sind wie Geschwister. Toni hat sich einen Mann zum Bruder genommen und sie
fragt den Mann, den sie sich zum Bruder genommen hat, ob er mitkommt auf eine
Nachttour zur Firstalm.
„Wenn du meinst“, sagt Fred, steht auf und tritt auf den Balkon. Mild ist die Luft, kein
Schnee, deshalb verstehe er nicht, warum auf die Firstalm. „Mit Schlitten wäre das okay,
aber ohne Schnee? Aber gut, wenn es sein muss.“
Ein Nerd sei ein Mensch, der über ein bestimmtes Problem länger nachgrübelt als andere
Menschen, hörst du den Schriftsteller Gabriel Roth im Radio kurz vor Mitternacht in
einem Interview sagen. Wie Frauen anzusprechen seien müsse man lernen, wie die C ++
Programmierung. Du denkst daran, dass das erste Computerprogramm, das in der Lage
war eine Programmiersprache in eine Form zu übersetzen, die von einem Computer
ausgeführt werden kann, von einer Frau geschrieben wurde, einer amerikanischen
Mathematikerin.
Kurz nach Mitternacht holst du den Schuhkarton aus dem Regal, platzierst ihn auf dem
Schreibtisch. Staubig ist die Plastikfolie, in die er gewickelt ist. Im Schuhkarton befinden
sich über zweihundert Frontbriefe aus Weißrussland, damals zu Russland gehörend,
geschrieben vom Unteroffizier Manfred H., der am ersten Januar
neunzehnhundertdreiundvierzig eingezogen wurde, und am zwölften Juli
neunzehnhundertvierundvierzig in Weißrussland gefallen ist. Briefe an seine Frau Gisell
und seine Kinder und Briefe von seiner Frau an ihn. Es sind vier Bündel, ein jedes mit
Bindfaden zusammengebunden, beschriftet und nummeriert: Briefe von Manfred an
Gisell vom vierten Januar neunzehnhundertdreiundvierzig bis einunddreißigsten
Dezember neunzehnhundertdreiundvierzig steht darauf und Briefe von Manfred an Gisell
vom ersten Januar neunzehnhundertvierundvierzig bis Juli
neunzehnhundertvierundvierzig, gefallen am zwölften Juli
neunzehnhundertvierundvierzig bei Gumnistosche. Du suchst nach dem Ort auf virtuellen
Landkarten, in Suchmaschinen, auf Sattelitenaufnahmen. Einen Ort solchen Namens
kannst du nicht finden. Du orientierst dich an den größeren Orten, die Manfred H. in den
Briefen, zuweilen im Text versteckt wegen der Zensur, erwähnt hat. Osten schreibt er auf
den Briefbogen, an der Stelle an der üblicherweise der Ort vor dem Datum steht.
Du weißt nicht wie man Frontbriefe aufräumt. Gisell hat dir den Schuhkarton vor
fünfundzwanzig Jahren mit den Worten ‚Mach was draus‘ übergeben. Was sollst du
daraus machen. Sollst du sie an eine Konzeptkünstlerin, einen Konzeptkünstler geben.
Du denkst an Albert. Ihm würde etwas zu den Briefen einfallen, wie ihm zu Lenin etwas
eingefallen ist. Er transportierte die Monumentalbüsten von Lenin, einem Arbeiter und
einem Rotfrontkämpfer aus der ehemaligen DDR auf einem Tieflader an Orte, an denen
Lenin wirkte, um Lenin seinen Zeitgenossen zu zeigen und Lenin das einundzwanzigste
Jahrhundert. Mit dem Tieflader fuhr er nach Zürich, nach Rom, querte die Alpen, befragte
Touristen, Kuratoren, Philosophen, Passanten.
Kompostieren, fällt dir ein. Dann werden sie zu Erde, wie Menschen zu Erde werden und
Biomüll zu Erde wird. Blumenerde, Kräutererde, Gemüseerde, Rosenerde, Graberde.
Oder sollen sie in einem Militärarchiv einsortiert, an ein Museum gegeben werden. Alles
fühlt sich nicht richtig an. Aber was dann? Wie räumt man Frontbriefe auf, die aus der
Großelterngeneration stammen. Die bezeugen, dass es einen Großvater gab, der auf
Befehl getötet hat. Männer, Frauen, Kinder, vielleicht Juden. Der um sein Leben
gekämpft hat, sich an der Natur – Schmetterlingen, Sonnenstrahlen, Nebelbänken,
Vogelgezwitscher, Mäusen, Ratten, Marienkäfern – und an der Familie sowie am fast
tagtäglichen Briefeschreiben festgehalten hat, der versucht hat Worten wie Pflicht und
Befehl einen Sinn abzuringen, stolz über Beförderungen, Auszeichnungen für
erfolgreiche Kampfhandlungen war, von Sieg gesprochen, gebrandschatzt und in den
Schützengräben im Geiste eine Friedenssinfonie komponiert hat, der den Roman „Der
Hungerpastor“ von Wilhelm Raabe im Schützengraben gelesen hat in der Hoffnung sein
Menschsein nicht zu verlieren. Der zerbarst, zerriss, in einer Blutlache zerfloss in
weißrussische Erde einsickerte, wie das Blut der Männer, Frauen und Kinder, die er
getötet hat. Und das Zerrissene, das Zerborstene, der Schmerz sich in die Leiber der
Dagebliebenen eingenistet hat, wie Schmarotzer sich in den Leib des Wirtes einnisten und
sich von ihm nähren, solange sie bewirtet werden. Was mache ich mit den Frontbriefen?
Was bedeuten sie für mein Leben, für das von Toni? Wie räume ich sie aus meinem
Leben? Sie gehören dazu und sie gehören nicht dazu und wohin damit?

Dienstag, 25. Dezember 2012 – Kurz nach ein Uhr: Von Vitus ist eine Mail eingetroffen:
„Liebe Jo, verzeih, dass ich mich jetzt erst melde, noch dazu in dieser feierlichen Nacht.
An der Mail schreibe ich zumindest gedanklich seit unserer ersten und letzten
Begegnung. Erst jetzt finde ich die Zeit, sie in den Laptop zu tippen und dir zu schicken.
Immer noch bin ich im Bann des Zaubers jener Tage, als wir beisammen waren. Viel zu
kurz war die Zeit und doch spüre ich noch jetzt wie es war bei dir zu sein, in dir zu sein.
Vitus“
Du fliegst über die Worte, liest wie Vitus den Abend mit seinen Kindern verbrachte,
seiner geschiedenen Frau, wie er noch am Mittag in Bern in einem Straßencafé saß, eine
Zigarette rauchend, einen schwarzen Tee und einen Cognac trinkend, die
vorbeischlendernden, vorbeieilenden Passanten beobachtend, ihre Gangart studierend,
ihre Mimik, die Kamera auf den Tisch liegend und gelegentlich auf den Auslöser
drückend, um eine Armbewegung im Bild zu haben, ein Gesicht, eine Hand, die ein
Croissant zum Mund führt, eine Hand, die eine andere umfasst, zwei Gesichter von einem
Paar, was vor die Füße auf den Boden schaut. Vitus. Freude hüpft in deine Finger, du
willst sofort antworten, ihm mitteilen, dass du eben, als er dir schrieb, an ihn gedacht
hast. Du setzt ein Wort neben das andere, dazu Satzzeichen. Nein! Du bremst deine
Finger, du legst sie um das Weinglas, trinkst von dem violett schimmernden Saft. Nein!
Du lässt nichts zu Vitus hüpfen.
Vormittag. Es ist Zeit Gisell anzurufen.
„Ja, mir geht es gut“, sagt Gisell.
Ihre Stimme wackelt und trotz des fremden Alterswackelns und Krächzens erkenne ich
den milden warmen Klang, der in ihrer Stimme schwang, als sie bei mir in Kindertagen
am Bett saß, über das Haar strich und munter ein Abendgebet in ihre verschränkten
Finger plapperte. Gisell erzählt, dass sie heute zum Mittagessen abgeholt wird, dass es
Gans gibt und am Nachmittag noch Kaffee und Stollen und dass sie sich auf einen
schönen Tag freue. Wir sprechen nicht davon, dass ihre Tochter Dietke, die ich nicht als
meine Mutter bezeichnen möchte, heute Geburtstag gehabt hätte, den zweiundsiebzigsten,
fünfundfünfzig hat sie erlebt.

Brief 1
Sofia, den 4. Januar 1943

Mein lieber Manfred!
Jetzt ist es 12 Uhr, in einer Stunde mußt du in der Kaserne sein. Dietke und ich denken an
Dich, denn Dati kann Dietke nicht in die Wanne heben, er ist „Schule Arbeit“ und „tu, tu
Zug, Omama“. Montag haben wir dein Bett fortgeräumt und Dietke suchte es nachher,
bis sie zu der Feststellung kam, das Bett ist kaputt und ein neues muß gemacht werden.
Zwei Tage nach deinem Weggang hat‘s hier geregnet, also alles trauerte. Daß ich
dummes Mädchen aber auch am Bahnhof weinen mußte! Aber als Du die Type grüßen
ließest, war es mit mir aus. Die letzten Tage habe ich alles ein- beziehungsweise
ausgeräumt, Windeln gewaschen, eingemottet, halt mich beschäftigt, damit man nicht so
viel denken muß. Ich komme mir trotzdem so wie auf Besuch bei mir vor. Es fehlt halt
doch zu viel.
Wrobelin und Sibylle besuchen mich öfter. Erstere möchte ja zu gerne, daß ich sie täglich
zum Mittagessen nähme, aber ich stelle mich dumm, denn ich will doch mein eigener,
freier Herr sein und nicht täglich von der Rundfunkabteilung hören.
Dietke ist mein Sonnenschein. Du weißt ja wie sie küßt, nun bekomme ich die doppelte
Portion. Diese Nacht hat‘s auf den Bergen geschneit, so können wir mit dem Schlitten
hinaus. Sie wird sich wundern ohne Vati. Dietke sagt wunderschön jetzt „Vati“, sie hat
Dich noch nicht vergessen. Wenn draußen ein fremder Schritt ertönt, dann ist es Vati und
abends heißt es „Dati, piep, piep gute Nacht.“ Ich nehme sie dann über die Schulter und
ab ins Bett. Beim Kuß heißt es noch „Vati nit da, Schule Arbeit“, das Fingerchen flutscht
ins Mündchen und Ruhe ist.
Henning erschien heute sogar ohne Aufforderung, um das Glas zu holen. Ich erklärte dem
Mann aus dem Geschäft alles, auch den Stuhl beanstandete ich. Was magst Du für
Nachrichten haben? Von hier, was schulisch geschieht, will ich lieber nicht berichten, da
es doch nichts Erfreuliches sein kann.
Nun will ich einen kleinen Mittagsschlaf machen. Draußen ist’s ja ziemlich laut, da alle
Telefondrähte gerissen sind und schon den ganzen Vormittag gearbeitet wird.
Was macht jetzt „Dati“? Ob er wohl schon in der Uniform steckt? Ach, wären wir doch
auch in der Nähe!

Brief 2
Chemnitz, den 4. Januar 1943

Meine liebe Gisell, meine liebe Dietke!
Ich sitze nun den ersten Abend in der Kaserne. Meine Einkleidung ist noch nicht beendet
und wird morgen Vormittag fortgesetzt, sodaß ich dann nach außen wenigstens Soldat
bin. In meiner Stube liege ich noch ganz allein. Du kannst dir denken, daß ich mich
häuslich eingerichtet habe, wenigstens mit den Mitteln, die mir zur Verfügung stehen. Ich
liege auf einem Seitenflügel der Kaserne, wo eine seltene Ruhe herrscht. Es ist eine
Unteroffiziersstube, und nur ab und zu höre ich den Rhythmus des Dienstbetriebes des
Hauptflügels. – In den nächsten Tagen werde auch ich in diesem Treiben mittun.
Man erklärte mir heute – und das ergibt sich aus dem besonderen Charakter meiner
Kompanie -, daß ich zunächst überholt werde, dann ins Feld käme und nach Bewährung
dort zum Offizier befördert werden könne. Im Anschluss an diesen Brief trinke ich noch
ein Bier in der Kantine und gehe dann in Gedanken an Euch in meiner Einsiedlerklause
ins Bett.-
Nun zur Fahrt! Ich fuhr schwer ab. Immer sah ich’s Männel erwachen und hörte im
Geiste ihr Rufen nach Dati. Dann sah ich Dich, tapfer, doch auch unter der Schwere des
Abschieds. – Nun liegen diese Stunden schon weit hinter mir. Die Fahrt ging gut. Bis
Belgrad war das Abteil besetzt, aber dann war ich mit einem Unteroffizier allein. Wir
konnten die ganze Nacht schön schlafen. Ab Wien war der Zug voll. Nur Soldaten. Aber
durch einen Oberfeldwebel, mit dem wir einen Skat spielen wollten, bekam ich Platz.
Als ich eben die Taschen meines Anzugs leerte, erfaßte ich einen harten Gegenstand in
der linken Brusttasche. Es war eines von Types Spielhäuschen. Ich muß immer an Euch
denken. Jetzt bringst Du sie gerade ins Bett. „Gute Nacht piep, piep, gute Nacht Baum,
Lampe … So sind meine Gedanken immer bei Euch. Seid tapfer! Ich küsse Euch
herzlichst und grüße Euch. Euer Manfred und Dati.
Den ganzen Tag hat es gestürmt und geschneit. In der Kaserne aber ist es schön warm.
Auch habe ich heute gut gegessen: Käse, Brot, Butter. (Sondergabe: Kaffeebohnen, die
ich nach Hause schicke.) Kartoffelsuppe mit Fleisch. – Ich fühle, daß alles gut gehen
wird. – Von Petrows habe ich mich nicht verabschiedet. Es tut mir sehr leid, aber ich
weiß nicht, wie es kam. Grüß Sie herzlichst! Nun ein Gagag fürs Männel (Zeichnung)

 ***

cover-Text

„leben, überwiegend glücklich“ – Roman – Gesina Stärz

Jo hat ihr Leben leergeräumt von Rollen, die sie ausfüllte als Ehefrau, Geliebte, Pressesprecherin eines Technologieunternehmens, von Möbeln, Kleidungsstücken, Geschirr, dem Fernseher, von Kontakten und Erinnerungsstücken. Sie lebt für zwei Jahre als Privatfrau, solange reichen ihre Finanzen, um noch ein Letztes aus ihrem Leben zu räumen: Einen Schuhkarton, den sie in einer Plastiktüte verpackt bei ihren Umzügen stets mitgenommen hat. Im Karton befinden sich Frontbriefe von der Ostfront aus Weißrussland verfasst vom Unteroffiziers Manfred H. in der Zeit vom 4. Januar 1943 bis 12. Juli 1944. Die Briefe sind in den Schützengräben an seine Frau und die Kinder geschrieben. Bei der entscheidenden Sommeroffensive der Roten Armee, in der der Durchbruch gelang und die Heeresgruppe Mitte vollständig zerschlagen wurde, kam Manfred H. ums Leben.

70 Jahre nach den Ereignissen liest Jo erstmals die Briefe und stellt den Fronterlebnissen ihres Großvaters ihren Alltag gegenüber: Jo, die aus den Schatten der Vergangenheit, den Traumata, die ihre Eltern und damit ihre Kindheit beherrschten, herausgetreten ist, entdeckt ihr Leben neu. Ihre Tochter Toni gehört einer neuen Generation an, die keine Widerstände kennt, stattdessen eine Welt reich an Möglichkeiten und frei von existenziellen Ängsten. Gero und Vitus, Jos Liebhaber, dürfen nur sparsam an Jos leergeräumten Leben teilhaben. Beide scheinen eine flüchtige Gastrolle in ihrem Alltag zu spielen, bei der weder Vergangenheit noch Zukunft bedeutsam sind. Und es gibt Nelli, einst Professorin für Medizin, jetzt aufgrund eines Unfalls schwer behindert. Nelli hat eine Mauer aus Sarkasmus um sich gebaut, kann Freiheit, Glück und Leichtigkeit nur im Tod sehen. Es sei denn es gelingt durch Mikrochips, die ihr im Rahmen eines Forschungsprojektes implantiert werden, wieder ein selbstständiges Leben zu führen.

Und dann taucht Z. auf. Der namhafte Künstler wird Jos Nachbar, verschafft sich Zutritt zu ihrem
Leben und bringt etwas mit, das Jos letztes Aufräumen in ein anderes Licht setzt.