Freitag, 23.9.2016
Spuren: Beim Joggen entlang der Nordspange Holzkirchen in Richtung Berge. Die Gipfel von Wendelstein über Wallberg bis zur Zugspitze ragen in der Ferne hinter dem imposanten Holzbau der Fachoberschule auf. Auf dem Asphalt kleben dünne schleimige Schleifspuren von Weichtieren. Ein in der Sonne flimmerndes und funkelndes Netz, anziehend wie Sirenengesang.
Vergangenheit: Am Abend speisen P. und ich im Oskar Maria Graf Stüberl in Berg am Starnberger See. Jenes Haus in dem der Schriftsteller Oskar Maria Graf geboren wurde, mit seinen acht Geschwistern aufwuchs. Eine junge Frau im Dirndl mit in den Nacken gebundenen hellen Haaren begrüßte uns. Sie strahlte Herzenswärme aus. Die Stasl etwa, die in diesem Haus vor etwa 150 Jahren ihrem Bruder Max Graf, dem Vater von Oskar Maria, die Wecken und Leibe austrug, anfangs zu Fuß bis nach Aufkirchen und Aufhausen. Ich schaute mich in der Stube um. Hier irgendwo musste der Sarg gestanden haben aus dem die Leichenfrau die kleine Marei, nur wenige Monate alt, gehoben hat – das elfte und letzte Kind von Max und Resi Graf.
Ein Mann bekleidet mit grünem Pullover und roten Hosen kam in die Wirtsstube und schaute nach seinem reservierten Tisch. Das könnte der Max sein, der älteste Sohn von Max Graf und der älteste Bruder von Oskar Maria, der die Kinder nach dem Tod des Vaters misshandelte, so dass Oskar Maria, selbst fast noch ein Kind, mitellos das Haus verlies und sich in München durchbrachte. Das Haus verwandelt die Menschen, die über die Türschwelle treten. Vergangenheit und Gegenwart verdichten sich – zumindest, wenn man den Roman „Das Leben meiner Mutter“ gelesen hat.
Samstag, 24.9.2016
Heute morgen O. begegnet. Im Traum. O. im Rollstuhl. Er rief in verwaschener Sprache: „Das ist gut.“ Ich schob ihn durch eine Menschenmenge, musste aufpassen, dass der Rollstuhl nicht nach hinten kippte und die Schläuche aus denen Körperflüssigkeit in einen Beutel lief, nicht auf der Straße schleiften. Ich machte O. auf die am Straßenrand parkenden Autos aufmerksam, in denen Menschen wohnten: Ein Vater wechselte einem Baby die Windeln, zwei Buben würfelten, eine Frau sortierte Wäsche in Schachteln. O. sagte: „Wie schön.“ O. ist bereits vor einem Monat im Alter von 49 Jahren gestorben.