Mr. Everyday und andere Menschen

Mittwoch, 6. September 2017

Gestern hat Vladimir, einer der Burgführer, mich auf Deutsch gefragt, ob ich ein Ticket habe. Das werde ich jeden Tag auf tschechisch gefragt, wenn ich die Burg betrete. Jeden Tag antworte ich: I‘m an writer. I live in Villa Paula. Woher weiß Vladimir, dass ich Deutsche bin?

Ich bin den sechsten Tag hier und werde nicht mehr als Touristen gesehen, nicht von der Kassiererin an der Burgauffahrt, nicht vom Einlassherren am Speicher in der die Ausstellung Skrytá Místa sich befindet. Der winkt jetzt zurück, wenn ich zur Begrüßung winke. Ich bin jetzt eine sonderbare Fremde, die in der Villa Paula lebt, eine Künstlerin, die es sich leisten kann Künstlerin zu sein, eine Deutsche.

Freitag, 8. September

Mr. Everyday ist noch nicht da, obwohl ich wegen ihn um 7 Uhr aufgestanden bin, um mein Auto umzuparken. „Everyday we come“, sagte der Mann, der seine Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden hat, gestern und zeigte auf den Holzverschlag vor dem ich parkte. Dafür sah ich Chefkurator Magister Michal Lazorcík die Treppe herunterkommen, der heute besonders freundlich grüßte nach dem er gestern Abend etwas ungläubig darüber schien, ob ich tatsächlich so früh aufstehen würde, um umzuparken. Den Münchener Fotografen Michael Jochum sehe ich den zweiten Tag nicht, hörte ihn gestern vor Mitternacht mit seiner Kamera außer Haus gehen. Es ist 11.12 Uhr und Mr. Everyday ist noch nicht da.

Samstag, 9. September 2017

Ich bin schon 6.45 Uhr aufgestanden, wegen Mr. Everyday – hätte ja Holz kommen können. Mr. Everyday kam nicht.

Im Coop Market schaffe ich es sto (russisch! Ich werde verstanden!) gramma Schinken zu kaufen! Ich sage diký als die Verkäuferin mir das Päckchen über die Ladentheke reicht. Sie schaut mich irritiert an. Ich versuche es nochmal mit „Danke“. Sie strahlt. Auch mein „Dobrý den“ wurde nicht verstanden als ich den Laden betrat. Als ich hallo rief, kam ein freundliches  „Dobrý den“ zurück und als ich den Laden verlasse, sagt die Verkäuferin „Auf Wiedersehen“. Irgendetwas stimmt mit meinem Tschechisch nicht.

Eine Hochzeitsgesellschaft spaziert durchs Dorf, viele Kinder sind dabei, zumeist im Kinderwagen. Die Frauen in High Heels laufen wie in Zeitlupe den Berg zur Burg hoch. Lachen, scherzen, Musik.

Später fallen Schüsse. Die Kinder halten verschreckt im Spielen inne. Ein Mann brüllt herum. Aber keiner läuft schreiend weg – also ein Hochzeitsbrauch.

Weiße Tauben, tote Tauben

Sonntag, 17. September 2017

Ein Schriftsteller aus Brüssel, der mich Freundin nennt, schreibt: „Ich leide weil der Sommer geht. Mein Garten eine Landschaft der Zusammenbrüche.“

Ich antworte: Der Sommer geht und ich schaue auf das, was kommt: würziger Duft, braune Kastanien, gelbes Laub, geheimnisvolles Licht im Nebel, Stürme, die Wolken unter – warum heißt es eigentlich über – den Himmel übers Land jagen und manchmal auch Hüte.

Eben trippeln weiße Tauben die Dorfstraße hoch. Heute lag auf dem Eingangsportal der Kirche der „Unbefleckten Empfängnis der Jungfrau Maria und des heiligen Ignatius“ – tschechisch: Kostel Neposkvrněného početí Panny Marie a svatého Ignáce –  in Klatovy eine halb verweste Stadttaube im Kot von anderen Stadttauben. Sie lag vermutlich gestern schon dort und sie wird vermutlich morgen noch dort liegen.

Der gefallene Baum

Mittwoch, 20.September 2017

Der Gigant ist abgeknickt. Liegt auf der Schafweide. Die Bruchspitze ragt steil in den Himmel. Nicht stolz. Schafe knabbern am Blattwerk. Der Stamm versperrt den Weg. Vier Arbeiter fahren mit einem kleinen Traktor mit Anhänger und Motorsäge vor. Drei Tage zerlegen sie den Baum in Stücke, seinen Stamm, seine Äste, seine Blätter. Sie fahren das Stückwerk herunter von der Burg ins Dorf, lagern es an der einfallenden Wand eines alten Gehöftes ab. Holz für die Villa Paula. Aus dem Schornstein der Villa steigt Rauch. Ein Baumfest wie es ein Schlachtfest gibt, wird es nicht geben. Auch wenn die Holzscheite im Ofen an vielen Festen für Wärme sorgen werden. An der Stelle, an der der Baum gefallen, wühlen die Schafe mit ihren Mäulern in den hell leuchtenden Holzspänen.